Bei der Beurteilung, ob es sich um einen Arbeitnehmer oder einen Subunternehmer handelt, unterscheidet Steuer und Sozialversicherung in der Gewichtung der Kriterien.
Die Frage nach Scheinselbstständigkeit wurde zuletzt um die Jahrtausendwende intensiv behandelt und schwelt seither. Fest gemacht wurde die Fragestellung schon damals gerne an Handelsvertretern, da dieser Personenkreis sich typischer Weise immer an der Grenze zwischen den beiden Möglichkeiten befindet.
Aus der Sozialversicherung
Besprechungsergebnisse der Spitzenorganisationen der Sozialversicherung
Gemeinsames Rundschreiben vom 13.04.2010-I: Statusfeststellung von Erwerbstätigen
[…]
3 Entscheidungsfindung
[1] Für die Beurteilung, ob ein Handelsvertreter dem beauftragenden Unternehmer gegenüber die Rechtsstellung eines selbständigen Gewerbetreibenden einnimmt, kommt es auf die Gesamtumstände des Einzelfalles an, d.h. es ist festzustellen, ob die Merkmale, die für eine abhängige Beschäftigung oder eine selbständige Tätigkeit sprechen, überwiegen. Maßgebend ist, ob nach den Abreden in dem zwischen dem Beauftragten und dem beauftragenden Unternehmer geschlossenen Vertrag und der gesamten tatsächlichen Ausgestaltung der Beziehungen der Beauftragte eine im Rechtssinn persönlich selbständige Stellung als Unternehmer eines eigenen Gewerbes innehat. Weichen die tatsächlichen Gegebenheiten von den vertraglichen Vereinbarungen ab, haben die tatsächlichen Verhältnisse ausschlaggebende Bedeutung.
[2] Auch mit einem als Handelsvertretervertrag o.ä. bezeichneten Vertragsverhältnis kann dementsprechend durchaus ein sozialversicherungsrechtlich relevantes Beschäftigungsverhältnis begründet werden.
[3] Selbst wenn die einzelnen Regelungen in dem Vertrag für sich genommen in einem Handelsvertretervertrag zulässig und mit der Rechtsstellung eines Handelsvertreters vereinbar sind, liegt keine selbständige Tätigkeit vor, wenn zu viele Einschränkungen der handelsvertretertypischen Selbständigkeit zusammenkommen und dem Vertragspartner gleichsam sämtliche Vorteile genommen sind, welche mit der Stellung eines selbständigen Handelsvertreters verbunden sind; ihm letztlich nur die Nachteile bleiben, nämlich die Übernahme des wirtschaftlichen Risikos.
[4] Der Beauftragte ist Angestellter und damit abhängig Beschäftigter, wenn er sich nach den Gesamtumständen in einer persönlichen Abhängigkeit zum auftraggebenden Unternehmer befindet.
3.1 Starke Merkmale für die Annahme eines Beschäftigungsverhältnisses
[1] Den folgenden Merkmalen misst die Rechtsprechung ein sehr großes Gewicht für die Annahme eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses bei. Sie führen zu Beschränkungen, die in den Kerngehalt der Selbständigkeit eingreifen.
[2] Dazu gehören:
- die uneingeschränkte Verpflichtung, allen Weisungen des Auftraggebers Folge zu leisten
- die Verpflichtung, dem Auftraggeber regelmäßig in kurzen Abständen detaillierte Berichte zukommen zu lassen (vgl. aber 3.3)
- die Verpflichtung, in Räumen des Auftraggebers zu arbeiten
- die Verpflichtung, bestimmte EDV-Hard- und Software zu benutzen, sofern damit insbesondere Kontrollmöglichkeiten des Auftraggebers verbunden sind.
[3] Derartige Verpflichtungen eröffnen dem Auftraggeber Steuerungs- und Kontrollmöglichkeiten, denen sich ein Selbständiger nicht unterwerfen muss.
[4] Weiter gehören dazu:
- die Verpflichtung, ein bestimmtes Mindestsoll auf hohem Niveau zu erreichen (vgl. aber 3.3); ein „unverbindlicher Erfolgsplan“ (vgl. 3.4) beinhaltet zwar keine solche Vorgabe, wohl aber dann, wenn er mit Sanktionsregelungen verbunden ist. Eine Sanktionsregelung ist auch darin zu sehen, dass die Höhe eines Provisionssatzes mit der Anzahl der vermittelten Verträge steigt; der Sanktionscharakter wird umso stärker, je ausgeprägter sich die Provisionssatzsteigerung gestaltet;
- das Verbot, Untervertreter einzustellen bzw. ein Genehmigungsvorbehalt des Auftraggebers.
[5] Derartige Beschränkungen setzen dem Geschäftsumfang des Beauftragten gewisse Grenzen. Selbständige können jedoch grundsätzlich nicht zu einem bestimmten maximalen oder minimalen Geschäftsumfang verpflichtet werden. Ihnen muss die Befugnis verbleiben, sich mit einem geringen geschäftlichen Erfolg zufriedenzugeben; genauso muss ihnen aber auch die rechtliche Möglichkeit zur geschäftlichen Expansion offen stehen.
[6] Nahezu zwingend für die Bejahung eines Beschäftigungsverhältnisses sind diese Merkmale:
- die Verpflichtung, nach bestimmten Tourenplänen zu arbeiten
- die Verpflichtung, Adresslisten abzuarbeiten
[7] jeweils insbesondere in Verbindung mit dem
- Verbot der Kundenwerbung aus eigener Initiative.
3.2 Starke Merkmale für die Annahme einer selbständigen Tätigkeit
Den Merkmalen kommt bei der Abwägung ein sehr starkes Gewicht zu:
- Tätigwerden für mehrere Auftraggeber (bei Konzernen bzw. Konzernunternehmen i. S. des § 18 Aktiengesetz – AktG? – handelt es sich nicht um mehrere Auftraggeber)
- Beschäftigung von „eigenen“ versicherungspflichtigen Arbeitnehmern, gegenüber denen Weisungsbefugnis hinsichtlich Zeit, Ort und Art der Arbeitsleistung besteht.
3.3 Variable Merkmale
[1] Bei diesen Merkmalen kommt es auf den Umfang der Weisungsbefugnis bzw. den Umfang der Beschränkung durch die einzelne Weisung an. Das Gewicht, mit dem diese Merkmale in die Gesamtabwägung eingehen, hängt von der Ausprägung im Einzelfall ab.
[2] Alle diese Beschränkungen führen zwar nicht zwingend zur Annahme eines Beschäftigungsverhältnisses. Eine Häufung verschiedener dieser Merkmale kann jedoch die Ablehnung der Selbständigeneigenschaft zur Folge haben.
[3] Zu diesen Merkmalen gehören:
- die zeitliche Beschränkung der Reisetätigkeit
- die Verpflichtung ein bestimmtes Mindestsoll auf niedrigem Niveau zu erreichen (vgl. aber 3.1)
- die Verpflichtung, Bericht über die Tätigkeit zu erstatten (vgl. aber 3.1)
- die Verpflichtung, Untätigkeit (Urlaub, Krankheit) zu melden
- die Verpflichtung, Revisionen des Auftraggebers zu dulden
- die Verpflichtung, Weisungen hinsichtlich des äußeren Erscheinungsbildes (Büro etc.) zu befolgen
- die Verpflichtung, an bestimmten Veranstaltungen (Schulungen etc.) regelmäßig teilzunehmen
- die Verpflichtung, regelmäßig bestimmte Tätigkeiten zu verrichten (Bestandspflege, Verwaltung etc.).
[4] Bei den weiteren Merkmalen kommt es ebenfalls auf den Umfang an, also auf die Höhe der vom Auftraggeber geleisteten Zahlungen, d. h.:
- die Zahlung einer echten Mindestprovisionsgarantie (vgl. aber 3.4)
- die Zahlung von Aufwendungsersatz über das handelsübliche Maß hinaus, insbesondere als monatliches Fixum (vgl. aber 3.4).
3.4 Merkmale ohne oder mit sehr geringem Gewicht
[1] Den folgenden Merkmalen kommt bei der Abwägung überhaupt kein oder nur ein sehr geringes Gewicht zu. Zur Abgrenzung kann nicht allein auf diese Kriterien zurückgegriffen werden. Sie können allenfalls Tendenzen aufzeigen bzw. bestätigen.
[2] Dazu gehören:
- die vertragliche Verpflichtung, allgemein die Interessen des Auftragnehmers (mit der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns) zu wahren
- die Überlassung von für den Auftragnehmer unverbindlichen „Geschäftsanweisungen“ usw.
- die Tatsache, dass der Auftragnehmer seine Arbeitszeit nach den Anwesenheitszeiten der Kunden auszurichten hat
- die Aufstellung eines für den Auftragnehmer unverbindlichen „Erfolgsplans“ o.ä. ohne Sanktionsmöglichkeiten (vgl. aber 3.1)
- die vertragliche Vereinbarung oder die erstmalige Zuweisung eines festen Bezirks
- die fehlende Befugnis, das vermittelte Produkt bzw. die Produktpalette zu gestalten
- das Fehlen eines zur Betreuung o.ä. zugewiesenen Kundenkreises
- die Vereinbarung eines Konkurrenzverbotes
- das Verbot, allgemein für andere Unternehmen bzw. für andere Unternehmen derselben Branche tätig zu sein
- die vertraglich vereinbarte Beschränkung auf bestimmte Sparten
- Verbote, die geeignet sind, ein wettbewerbswidriges Verhalten des Auftragnehmers zu verhindern
- das Verbot systematischer Telefonwerbung
- das Verbot unzulässiger Kopplung von Versicherungsverträgen mit anderen Produkten
- das Verbot, Veröffentlichungen zu Werbezwecken vorzunehmen, die nicht mit dem Versicherungsunternehmen abgestimmt wurden
- die Zahlung eines Provisionsvorschusses (vgl. aber 3.3)
- die Zahlung von handelsüblichem Aufwendungsersatz (vgl. aber 3.3)
- die formalen Merkmale, wie
- die Anmeldung eines Gewerbes
- die Eintragung ins Handelsregister
- die Zahlung von Gewerbe-, Umsatz-, und Einkommensteuer an Stelle von Lohnsteuer
- die Nichtzahlung von Sozialversicherungsbeiträgen
- die Selbstfinanzierung einer privaten Kranken- und Alterssicherung durch den Betroffenen
- die Führung einer entsprechenden Berufsbezeichnung, die Verwendung eines eigenen Briefkopfes, der Eintrag ins Fernsprechverzeichnis
- keine Führung einer Personalakte durch den Auftraggeber
- keine Teilnahme des Betroffenen an Betriebsratswahlen.
[3] Die als formale Merkmale beschriebenen Umstände betreffen zumeist das Auftreten beider Parteien gegenüber Dritten (Behörden, andere für den Auftraggeber Tätige, Kunden). Sie dokumentieren lediglich, dass sich die Vertragspartner im Regelfall auch der Außenwelt gegenüber in einer dem Vertragswortlaut entsprechenden Weise verhalten.